Einführungstext von Friedmann Harzer
Der leichte Mondball zuerst.

Übersetzung, Umstellung und Öffnung
in Peter Barons imaginärer Ausstellung
„Magie der Dinge. Von der Tücke des Objekts“

Ein Regentag im Frühling,
ich schaute raus, ein, zwei Mal, und
fragte mich, ob wohl jemand vorbeikäme.

Ko Un: Blüten des Augenblicks.
Frankfurt/Main 2011, S. 17.

Durch die Ausstellung „Magie der Dinge. Von der Tücke des Objekts“ bewegt man sich mit seinem Cursor. In den vier Sälen dieser imaginären Schau ist zu sehen, wie Peter Baron aus Objekten und Bildern Texte gemacht hat, die er in einem virtuellen Museum vom 21.11.2017 bis zum 20.2.2018 wie Bilder ausstellt.
Man sieht Bilder, die keine Bilder mehr sind, und man liest Gedichte, die mehr sind als Gedichte.
Peter Barons Objekte, Installationen, Interventionen und architektonische Arbeiten stellen seit jeher kalkulierte Verunsicherungen dar. Sie deuten an, was man nicht zeigen kann: den Raum um die Dinge, einen Möglichkeitsraum ohne Grenzen, einen Zeitraum, der sich als prinzipiell endlos erweist.
Gestalterisch hat Baron schon immer mit Schriftzeichen experimentiert. Sie dienen ihm nicht nur als Medien der Vermittlung von Sinn und Bedeutung, er bringt sie auch in ihrem Eigenrecht als Form und Material zur Geltung. Dieses Verständnis von Schrift als Bild begegnet einem auf der Plattform hi-recollect als „Magie der Dinge“ wieder.

Übersetzung
Peter Barons imaginäre Ausstellung in Texten knüpft an seine buchstäbliche Kunst an, geht aber doch neue Wege: Er übersetzt Bilder, Photographien, Objekte und Installationen in Texte, die auf den ersten Blick wie Gedichte aussehen. Diese Texte sind Dokumente dafür, wie Baron Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen, die er aufgrund ihrer Vieldeutigkeit, ihrer Kraft oder ihres Witzes besonders schätzt, liest und versteht – und sie sind zugleich Teil einer künstlerischen Intervention in die digitale Welt des Netzes. In diesem Sinne könnte man die hier präsentierten Texte als Lese-Bilder bezeichnen. Sie sind Schriftspuren der Lektüre von Bildern. Wer ihre Fährte aufnimmt, weiß nicht immer, wohin ihn das führt: Zurück zum Ausgangsbild, hinein in einen dichten Text oder heraus aus einer eingeschliffenen Seh- und Denkgewohnheit?
Peter Baron stellt seine Lese-Bilder in vier Abteilungen zu der immateriellen Ausstellung „Magie der Dinge. Von der Tücke des Objekts“ zusammen. Raum 1: „Das Eigenleben der Dinge“. Raum 2: „Der Lauf der Dinge“. Raum 3: „Ordnung und Erinnerung“. Raum 4: „Die Landschaft und die Dinge“. In diesen virtuellen Sälen ordnet Baron in Texten neu an, was ihn im realen Museum erreicht und berührt hat.
Das Projekt verdankt sein Entstehen im Wesentlichen zwei Impulsen, die Peter Baron 2013 auf der Biennale von Venedig und 2016 durch eine Ausstellungsreihe der Hamburger Kunsthalle bekommen hat. Ausgangsidee eins: 2013 haben Alexandra Pirici und Manuel Pelmus im rumänischen Pavillon 100 Arbeiten aus der Geschichte der Biennale von Venedig reinszeniert. Dieses choreographische Reenactment modifizierte Peter Baron dergestalt, dass er – Ausgangsidee zwei – Bilder aus der am 20. April 2016 eröffneten Hamburger Ausstellung zur „Magie der Dinge. Von der Tücke des Objekts“ in Texte übersetzt hat; später kamen noch andere künstlerische Positionen, die ihm zum Thema der Hamburger Schau begegnet sind, hinzu. Seine literarischen Reenactments hat Baron schließlich in einem längeren Prozess des Weiterschreibens und des Umstellens zu der heute eröffneten immateriellen Ausstellung auf der Plattform hi-recollect rearrangiert.
„Hi“ und „recollect“ – was heißt das für Peter Baron in diesem Zusammenhang? Zweierlei, wie er sagt: „Hallo, erinnere dich an diese wunderbaren Arbeiten von überallher und sammle sie wieder!“. Aber auch: „Hi, sammle dich und sei offen für neue Sichtweisen!“
„Hi“, „re“ und „collect“ sind Fragmente aus dem Titel einer bekannten Arbeit von Allen Ruppersberg, den Peter Baron wie schon die Hamburger Ausgangsschau als Motto recycelt haben: „honey, i rearranged the collection“. Baron rearrangiert die durch Fettdruck hervorgehobenen Silben zum Titel seiner Ausstellungs-Site. So nimmt er die Schriftzeichen als Material ernst und illustriert zugleich die Mehrbödigkeit seiner Lese-Bilder: Er macht im Zitat eine zweite Spur sichtbar, die jetzt durchschimmert wie auf einem Palimpsest.
Kunst antwortet in Peter Barons jüngstem Projekt auf Kunst, ein Künstler reagiert auf andere und verwandelt dabei ikonische in symbolische Zeichen. Der Wechsel des Mediums, bei Pirici und Pelmus von der Bildenden Kunst etwa zum Tanz, bei Peter Baron von Bildern und Objekten zu eigentümlichen Lese-Bildern, ermöglicht es Betrachtern, neue Blickwinkel einzunehmen und Dinge, gerade dank ihrer doppelten Vermittlung, anders zu sehen, vielleicht frischer, vielleicht auch genauer. Gegenstände und Verfahren der Kunst geraten mit solchen Reenactment-Arbeiten ebenfalls in Bewegung – sie werden, dank ihrer künstlerischen Verwandlung, sicht- und erinnerbar.
Wer übersetzt, setzt über. Er ist unterwegs, auf einer Fähre, zwischen zwei Sprachen oder bei intermedialen Reenactments. Dabei ist der Weg wichtiger als sein Ausgangs- oder Zielpunkt, der Fluss wirkt breiter und lebendiger als seine Uferlinien, die es vielleicht überhaupt nicht gibt. Peter Barons an diesem virtuellen Ort ausgestellte Lese-Bilder sind unterwegs zur Sprache, sie bleiben aber aus zwei Gründen weiterhin vor allem bildnerische Arbeiten, zum einen wegen ihrer Präsentation als Kunstwerke in diesen vier virtuellen Museumsräumen, zum anderen aufgrund der Art, wie sie literarisch gemacht sind und gesehen werden können.

Umstellung
Umstellung ermöglicht Neuanfang und eine Weitung der Perspektive.
Peter Barons Rearrangements auf dieser Plattform irritieren ein herkömmliches Verständnis von Ausstellung gleich doppelt. Er arrangiert erstens keine realen Bilder und Objekte, sondern stellt vermeintlich sekundär-dienende Gedichte oder Lese-Bilder zusammen, als wären sie ebenfalls noch handfeste Kunst-Gegenstände. Zweitens hängt er seine Lese-Bilder nicht als manifeste Druckfahnen, Buchseiten oder Manuskriptpassagen in einem gemauerten Museumsgebäude an die Wand, sondern er präsentiert sie vom 21.11.2017 an bis zum 20.2.18 für einen begrenzten Zeitraum virtuell im Netz.
Das Design der Startseite verfremdet die Ausstellungssituation, indem es einen radikal reduzierten Grundriss der vier im Uhrzeigersinn angeordneten Räume zeigt. Man sieht auf diese Raum-Rubriken aus der Vogelperspektive eines Museumsplanes, wie er einem auf den Übersichtsplänen vieler Ausstellungshäuser begegnet. Wenn man eintritt und auf einen der Räume mit dem Mauszeiger klickt, erblickt man die einzelnen Säle wiederum von oben: Jetzt erscheinen horizontal oder vertikal Titel der zum Raum-Motto passenden Lese-Bilder, die ein erneutes Klicken zu betrachten erlaubt. Dieses dreistufige Hypertext-Konzept hält „Magie der Dinge“ als Kunstausstellung in der Schwebe zwischen einer Architektur-Illusion und dem Eindruck, sich durch eine zweidimensionale, nicht-lineare Text-Welt zu bewegen, die kein Buch ist, aber auch kein Museum.
Peter Baron bleibt darin seiner Kunst aus der vorvirtuellen Zeit insofern treu, als auch hier wieder ein paradoxaler Zwischenraum entsteht, ein Weder-Noch. Baron agiert in diesem offenen Rahmen zugleich als Künstler, Kurator und Museumsbesucher, ohne sich auf eine eindeutige Haltung festlegen zu müssen. Er stellt sich vor, dass auch jeder Besucher seiner Schau „als Flaneur neue Ordnungen und eine neue Geografie kreiert“ und sich dabei einlässt auf einen „Prozess der Selbsterneuerung und des Selbstvergessens“. Dies kann gelingen, weil das virtuelle Rearrangement realer Kunstwerke in dieser Schau auf drei Ebenen funktioniert: Es spiegelt und erneuert die Exponate bereits entwickelter Ausstellungen in seinen Schrift- und Lese-Bildern, es kuratiert diese in einer eigenen, innovativen Ordnung, welche die Ausgangswerke zugleich in Erinnerung hält und überschreibt, und es globalisiert beides schließlich im Internet: Das Ergebnis dieser künstlerischen Strategie ist eine ziemlich radikale Öffnung des ästhetischen Raumes. Sie wäre im traditionellen Kunstbetrieb schwer vorstellbar. Darin liegt auch eine ideologie- und medienkritische Pointe dieses Projekts: „honey, I rearranged the collection.“

Öffnung
Peter Barons Übersetzungen und Umstellungen bewirken eine Öffnung der Wahrnehmung. Mit ihr geht ein Verständnis von künstlerischer Produktivität einher, das im Künstler vor allem einen Vermittler sieht und weniger einen Erfinder, der sein Werk aus sich selbst hervortreibt und schöpft. Auf der anderen Seite entsteht dadurch ein neuer Spielraum für die Rezeption von Kunst.
Barons Lese-Bilder bedienen sich verschiedener Strategien, um das Betrachtete ins Zentrum und den Betrachter an den Rand zu rücken. Es geht hier um die Dinge und nicht um das Ich – die Dinge im Lauf der Zeit.
Viele der Gedichte zitieren andere Texte, in der Gestalt von Bildtiteln („gegeben seien“ nach Marcel Duchamps, Raum 2), Künstlerzitaten („gestern flugsand“ nach Alberto Giacometti, Raum 1) oder auch von Anspielungen auf andere literarische wie philosophische Arbeiten („das letzte auf wiedersehen“ nach Ad Reinhardt und Robert Lax oder „turin im herbst“ nach Giorgio de Chirico und Friedrich Nietzsche, beide Raum 3). Ein Zitat bringt definitionsgemäß nichts Eigenes zum Ausdruck, eher ist es respektvoller oder auch ironischer Ausdruck der Offenheit für andere Künstler und Künste. Wer zitiert, denkt und lebt im Dialog und in der Bezogenheit. Er fragt sich lieber, um mit dem eingangs zitierten Ko Un zu sprechen, „ob wohl jemand vorbeikäme“, als dass er auf den eigenen Nabel starren würde.
Bei Peter Baron ist zum Beispiel Jan Koller vorbeigekommen, auf dessen imaginäre „Galéria Ganku“ und Tischtennis-Installationen das Lese-Bild „ganku“ aus Raum 4 anspielt:

„ganku.
ein unzugänglicher berggipfel
unter treibenden
himmeln,
ein balkon wie ein standbild.
die mienen, viele jahre,
wir spielen ping pong,
der leichte mondball zuerst.“

Ein zweites Verfahren, dessen Peter Baron sich bedient, ist die fragmentarische Bildbeschreibung, die man wiederum als ein Zitat lesen könnte, Zitat einer altehrwürdigen rhetorischen Gattung, der Ekphrasis nämlich. Barons Beschreibungs-Bilder collagieren Details der Ausgangswerke, etwa in „turin im herbst“ nach Giorgo de Chirico (Raum 3), „in luft verwandelt“ nach Jean Honore Fragonard oder auch in „mitten im warmen wind“ nach Arnold Böcklin (beide Raum 4).
Viele Lese-Bilder sind, teilweise mit der Tendenz zum knappen Haiku, konsequent minimalistisch gearbeitet. Das ist etwa an „auf dem gedrungenen bahnhofshäuschen“ nach Martin Honert (Raum 1) zu beobachten:

„auf dem gedrungenen
bahnhofshäuschen
wellen
abzeichen von
der schwimmprüfung.“

Von den Bildern herkommend nähern sich Peter Barons Texte also mit vielfältigen Zitaten, Beschreibungsfragmenten und ihrem programmatischen Minimalismus ideographischen Schriftsprachen wie dem Chinesischen oder Japanischen an, deren Grammatik tatsächlich erlaubt, Sätze ohne Subjekt und Zeitenfolge zu bilden. Die Offenheit der – das Subjektive und das Individuelle so weit als möglich ausblendenden – Lese-Bilder Barons führt zu Verdichtungen wie in „über stillgelegten gleisen“ nach Haegue Yang (Raum 1):

„über stillgelegten
gleisen
schweben die
lamellen verirrter jalousien
wie briefe.
manche öffnen sich,
die räume
rutschen auf die
andere seite.“

Peter Barons poetischer Minimalismus, dem das schlanke Web-Design seiner Ausstellung korrespondiert, eröffnet dem Publikum Freiräume fürs imaginierende Flanieren. Die Kunstwerke, von denen die Ausgangsimpulse kommen, werden aus ihrer räumlich und konzeptionell beschränkten Kunstbetriebsamkeit befreit. Sie beginnen so, ein ungewisses Eigenleben zwischen Bild und Schrift zu führen.
Es bleibt jedem Leser und Betrachter der „Magie der Dinge“ unbenommen, diese Ausgangsarbeiten zu Peter Barons Lese-Bildern in ihrer realen Umgebung oder per Bildersuche im Netz aufzustöbern. Doch der Witz dieser Texte liegt eigentlich darin, dass sie auf Haltungen zur Welt und zum menschlichen Sehen antworten, die Baron in den zitierten Kunstwerken und Künstlern erkennt. Haltungen, die Genauigkeit, Offenheit, Gesprächsbedarf und ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allem Eindeutigen und ein für allemal Fixierten verraten. Haltungen, die sich aus der Verquickung verschiedener Medien, Kontexte und Richtungen ergeben und diese allererst möglich machen.
Deswegen präsentieren sich die Lese-Bilder in den vier hier aufgebauten Räumen sprachlich dicht und vieldeutig. Wer ihre Selbständigkeit ohne den konkreten Rückbezug zum ikonischen Ursprung aushält, macht ähnliche oder ganz andere, jedenfalls aber eigene Erfahrungen – mit dem Bild, auf das sich ein Text Peter Barons bezieht, mit Barons Art, Kunstwerke zu lesen und zu sehen, und schließlich auch mit den eigenen Wahrnehmungsmustern.
Um solcher Offenheit willen hat Peter Baron darauf verzichtet, seine Lese-Bilder mit den Ausgangswerken zu verlinken oder gar die Ausgangsbilder direkt mit den jeweiligen Texten zu zeigen. Nachweise der Ausgangsschau und der einzelnen Werke finden sich zwar an anderem Ort, aber die Texte sollen selber in ihrem Schweben zwischen literarischem Eigenwert und Kunstbezug nicht durch Kontextualisierungsangebote gestört werden.
Peter Barons Rearrangement auf der Plattform www.hi-recollect lädt zu weiteren Reenactments ein. Seine Lese-Bilder-Schau liefert vielfältiges Material für eine soziale Skulptur, die in dieser Form erst unter den Bedingungen der digitalen Postmoderne funktionieren kann. Marcel Duchamps kanonisch gewordener Satz „Es sind die Anschauer, die die Kunst machen.“ beginnt mit diesem Projekt wieder zu leuchten. Hier ist es möglich, dass Besucher aus der ganzen Welt 14 Wochen lang „von der Tücke des Objekts“ erfahren und mit diesem imaginären Museum machen, was immer sie wollen: Recherchieren, diskutieren, interpretieren, weitermalen, weiterschreiben, im Geiste, mit Stift und Pinsel, mit der Kamera oder auf der Tastatur.
Ein Perpetuum mobile des Schauens, Lesens, Bildens und Schreibens, auch des Sprechens oder Schweigens könnte somit in Gang kommen.
Vielleicht.

Friedmann Harzer